Über Matthäus 10,26–33 (Rundfunkgottesdienst) – Dr. Bernd Krebs
Dr. Bernd Krebs
30. Oktober 2011 (Rundfunkgottesdienst im rbb-kulturradio)
26 Fürchtet euch nicht. Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. 27 Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. 28 Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. 29 Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. 30 Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. 31 Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge. 32 Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. 33 Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.
Liebe Hörerinnen und Hörer !
Ich möchte Ihnen von Micha erzählen. Er wuchs in der DDR auf. Anfang der 80er Jahre schloss er sich in Ost-Berlin einer Friedensgruppe an. Die Gruppe traf sich im Keller eines evangelischen Gemeindehauses. Sie hielt Friedensgebete und Mahnwachen ab. Sie sammelte Informationen über die Aufrüstung in der DDR und im Warschauer Pakt. Sie gestaltete Wandzeitungen, die sie im Gemeindehaus aufhängte. Das rief die Staatssicherheit auf den Plan. Wer, wie Micha und seine Gruppe, nicht nur die Aufrüstung im Westen kritisierte, sondern auch die im Osten galt als „feindlich-subversiv“. Mehrfach wurde Micha – wie es im Jargon der Stasi hieß– zugeführt und verhört. Die Stasi wollte von ihm Namen und Adressen wissen. Doch Micha gab niemanden preis. Das war sein Prinzip.
Micha hatte ständig neue Ideen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte die Gruppe viel aktiver sein müssen. „Wir müssen der Propaganda etwas entgegensetzen und die Menschen aufrütteln“ forderte er. „Warum werfen wir nicht Flugblätter von den Dächern? Warum stecken wir nicht Zettel in die Briefkästen?“
Als ihn einige in der Gruppe zur Vorsicht mahnten, nannte Micha das „Taktiererei“. Taktiererei aber war für ihn gleichbedeutend mit Verrat. Das Evangelium lasse keine Kompromisse zu. Der Auftrag Jesu sei eindeutig. Und dann zitierte Micha Jesus aus dem Matthäusevangelium: „Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch geflüstert wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern“.
Liebe Hörerinnen und Hörer. Micha hat diese Worte Jesu als ganz persönlichen Auftrag gehört und diesen Auftrag angenommen. Er wollte Jesus nachfolgen, entschieden und kompromisslos. Die Bergpredigt Jesu gab ihm die Richtung an: der Gewalt entgegen zu treten – ohne Gewalt, Frieden zu schaffen – ohne Waffen, für Gerechtigkeit ein zu treten – ohne neues Unrecht zu schaffen.
Brauchen wir nicht auch heute solche entschiedenen Christen wie Micha?
Einheiten der Bundeswehr sind heute fern ab unserer Landesgrenzen stationiert. Sie sichern die Seewege vor dem Libanon und vor dem Horn von Afrika. Sie schützen den Aufbau in Afghanistan. Sie sind in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt, auch wenn sie es nicht wollen. Eine Mehrheit in den Synoden und Leitungen der evangelischen Kirchen trägt dieses Engagement mit. Ist unsere Kirche zu kompromissbereit geworden? Sollte sie nicht eindeutiger reden? So fragen viele Christen und Nichtchristen, auch Micha – wobei er und viele andere, die aus dem Osten stammen, dankbar dafür sind, dass sie nicht mehr in einer Diktatur leben müssen, sondern in einem demokratischen Gemeinwesen. Sie kennen den Unterschied sehr genau.
Doch Menschen wie Micha legen auch heute den Finger in die Wunde. Mit ihrer Beharrlichkeit und Kompromisslosigkeit sitzen sie uns im Nacken. Das war in der Geschichte der Kirche immer so. Wenn etwas in der Kirche in Gang gebracht und Veränderungen durchgesetzt wurden, war das das Werk derer, die das Wort der Bibel als Herausforderung verstanden haben und sich nicht einfach abfinden wollten mit den scheinbar unumgänglichen politischen Zwängen ihrer Zeit.
Dazu gehören Mut und Unerschrockenheit. Am Vortag des Reformationsgedenkens kommt Martin Luther in den Blick. Als Luther die 95 Thesen an das Schwarze Brett der Wittenberger Universität heftete, hatte er nur zu einem akademischen Streitgespräch über die Bußpraxis der Kirche einladen wollen. Doch dann brach der Sturm los. Luther hatte den Nerv getroffen. Der Kaiser rief den Bann über ihn aus und Martin Luther nahm den Streit an. „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“, soll er auf dem Reichstag in Worms gesagt haben. Wäre er vor den Fürsten und den Vertretern der Stände zurückgewichen, hätte es keine Reformation gegeben.
„Und wenn die Welt voll Teufel wär, und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen …“ hat er später gedichtet. Ein trotziges Dennoch ist das. Eine Aufforderung, sich nicht einschüchtern zu lassen, von nichts und niemandem. Generationen von Christen und Nichtchristen haben sich durch diese Worte gestärkt und ermutigt gefühlt. Sie haben ihre Furcht überwunden und widerstanden.
Doch was geschieht denen, die schwach werden, weil die Furcht stärker ist als alle Vorsätze? Hören wir, wie es mit Micha weiter ging.
Bei einer Wohnungsdurchsuchung fand die Stasi bei Micha Bücher und Broschüren, die er von Freunden aus dem Westen erhalten hatte. Auf „feindliche Kontaktaufnahme“ – so hieß das damals – standen hohe Haftstrafen. Wieder wurde Micha verhört, rund um die Uhr. Als er am Ende seiner Kräfte war, boten ihm die Vernehmer an, ihn freizulassen, wenn er eine sog. Verpflichtungserklärung unterschreiben würde. Zermürbt vom tagelangen Schlafentzug erklärte sich Micha bereit, als „Inoffizieller Mitarbeiter“ seine Friedengruppe auszuforschen. Als Micha wieder zu Hause war, brach er zusammen. Er, der Unnachgiebige und Kompromisslose, war im entscheidenden Moment, schwach geworden. Er hatte alles verraten, was ihm heilig gewesen war. Wie konnte er den Anderen in der Gruppe jetzt noch in die Augen sehen?
Liebe Hörerinnen und Hörer. Wir Christen im Westen konnten damals, anders als Micha und seine Mitstreiter in der DDR, ungehindert Flugblätter verteilen, Gottesdienste feiern und Versammlungen abhalten. Wir können es auch heute. Unser Protest war und ist durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Dafür bin ich dankbar. Wie hätte ich mich verhalten, wenn ich, wie Micha, in die Hände der Stasi geraten wäre? Hätte ich am Ende auch eine Verpflichtungserklärung unterschrieben?
In vielen Ländern werden Christen heute bedroht, eingesperrt und gefoltert, weil sie das grundlegende Menschenrecht in Anspruch nehmen, ihren Glauben frei zu wählen und zu bekennen und sich zum Gottesdienst zu versammeln. Die Worte Jesu aus dem 10. Kapitel im Matthäus-Evangelium mögen uns, die wir in sicheren Verhältnissen leben, befremdlich klingen.
In unserer Vorstellungswelt gibt es für die „Hölle“ keinen Raum mehr – wir wollen uns vor Gott nicht fürchten müssen. Wir wünschen uns Gott als den gütigen, lieben, allzeit barmherzigen Gott, der Verständnis hat für alle Kompromisse, die wir eingehen müssen – und ahnen vielleicht doch, dass uns ein solcher Gott nicht helfen wird.
In den Ohren der bedrängten und verfolgten Christen sind es Worte des Trostes, wenn Jesus ihnen zuruft: Fürchtet euch nicht Seid ihr nicht mehr wert als alle Sperlinge der Welt, für die Gott nicht weniger sorgt als für euch?
Sie vertrauen darauf, dass Jesus für sie eintritt, wenn sie sich zu ihm bekennen. Sie wissen sich von Gott gehalten und ermutigt. Das verleiht ihnen die Kraft, das Leid aushalten und dem Unrecht, das man ihnen zufügt, zu widerstehen.
Unsere Aufgabe ist, den verfolgten Christen zum Beispiel im Iran oder in Ägypten unsere Stimme zu leihen und ihre Not zur Sprache zu bringen, in den Medien, in der Öffentlichkeit, gegenüber den Parlamentariern hierzulande und gegenüber den Verantwortungsträgern dort. Dazu braucht es Beharrlichkeit und Entschiedenheit. „Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch geflüstert wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern“, sagt Jesu. Denn auch in unserer Gesellschaft ist die Bereitschaft groß, das Leid der fernen Nächsten nicht an sich herankommen zu lassen. Haben wir nicht selbst genug Probleme?
Hören wir, wie es Micha weiter erging. Nach langem Ringen offenbarte sich Micha seinem Pfarrer. Der riet ihm, vor der Gruppe offen zu legen, was ihm widerfahren war. Ein IM, der sich outete, war für die Stasi nutzlos.
Beim nächsten Treffen der Gruppe berichtete Micha von den Verhören und der Verpflichtungserklärung, die er unterschreiben hatte. Die Gruppe war entsetzt. Micha bat die Mitglieder der Gruppe um Vergebung. Einige weinten, andere schwiegen und schauten weg. Einer aber nahm die Bibel und reichte Micha die Hand. Doch nicht alle folgten seinem Beispiel. Es gab einige, die die Gruppe verließen. Mit einem Verräter wollten sich nichts mehr zu tun haben. Das schmerzte Micha. Denn es waren die, mit denen er sich besonders verbunden gefühlt hatte. Bei der ersten Begegnung mit seinem Verbindungsoffizier, sagte Micha, dass er sich der Friedensgruppe offenbart hatte. Von da ab ließ ihn die Stasi in Ruhe.
Bis zum Herbst 1989 blieb Micha in der Friedensgruppe aktiv. Doch der Schock saß tief, dass es der Stasi gelungen war, ihn, den Entschiedensten aus der Gruppe gefügig zu machen.
Liebe Hörerinnen und Hörer. Micha wollte den Worten Jesu folgen, uneingeschränkt und kompromisslos. Er vertraute darauf, dass er stark genug sein würde, der Stasi zu widerstehen – bis er das tat, was er für undenkbar gehalten hatte. Micha musste auf schmerzliche Weise erkennen, dass er, der vermeintlich Starke und Entschiedene schwach geworden war.
Martin Luther dichtete in seinem wohl bekanntesten Lied: „Mit unserer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren, es streit für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren“. Denn Luther wusste, dass nicht unsere Kraft und auch nicht unsere Leistungen uns retten werden. Wie oft hatte er als Mönch versucht, Gott für sich zu gewinnen, durch Beharrlichkeit und Strenge, durch ein vorbildliches Leben – bis ihm beim Lesen des Römerbriefs die Erkenntnis traf: Gott hat sich längst für mich entschieden. Er vergibt mir, wenn ich schwach geworden bin und genau das getan habe, was ich nie hatte tun wollen.
Er trägt mich und verleiht mir die Kraft, der Furcht zu widerstehen.
Liebe Hörerinnen und Hörer, so gehört beides zusammen: Der Mut, für Jesus einzutreten und die Bereitschaft, zu vergeben und sich vergeben zu lassen, wenn wir hinter dem zurückbleiben, was wir als richtig erkannt haben. Das Eine wie das Andere fällt uns oft schwer. Auch Micha quält bis heute der Gedanke, er habe damals, als er die Verpflichtungserklärung unterschrieb, Jesus verleugnet.
Die Erinnerung an die nächtelangen Verhöre durch die Stasi treibt ihn um. Er fürchtet sich, obwohl er weiß, dass er heute in einem freien Land lebt. Der Schweizer Theologe Karl Barth hat einmal gesagt: „Wer sich zu Jesus bekennt, muss sich nicht mehr fürchten. Er hat alles, was er fürchten könnte, hinter sich gelassen. Er ist ein freier Mensch.“
Beten wir dafür, dass alle, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden und Unrecht erleiden, zur inneren Freiheit gelangen und die Furcht hinter sich lassen können.
Amen