Über Markus 12,28–34 – Dr. Bernd Krebs
Dr. Bernd Krebs
16. September 2008
Wer heute ein programmatisches Anliegen in die Öffentlichkeit bringen will, der muss seine „Botschaft“ in wenigen Worten auf den Punkt bringen können, am besten in nur einem Satz. Vor allem im Wahlkampf. Damit das gelingt, gibt es ganze Teams von Beratern. Die basteln und tüfteln, kürzen und verwerfen – bis der eine Satz steht! Je einprägsamer, desto besser. Ein Satz, der sofort haften bleibt, ein Satz, den jeder nachsprechen kann – das ist, was man braucht.
Und da ist denn auch die Kirche versucht, ihre Botschaft in einem Satz oder einem Slogan zu fassen – einprägsam und wiedererkennbar. Man wundert sich, was man da zu lesen oder zu hören bekommt. An der Autobahn bei Magdeburg kann man auf einem überdimensionalen Schild lesen: „Gott hat dich erwählt – www.gott.de“. Durch deutsche Städte fährt seit einigen Wochen ein Bus mit der Aufschrift „... und wenn es ihn doch gibt – www.Gottkennen.de“. Eine Art „Fahrende Antwort“ auf den Bus einer Initiative von Atheisten, die einen Bus durch die Lande schicken mit der Aufschrift „Es gibt (aller Wahrscheinlichkeit nach) keinen Gott“. Die Kampagne „Gott.de“ und „Gottkennen.de“ stammen aus dem freikirchlichen bzw. evangelikalen Bereich. Längst ein Klassiker im freikirchlichen Milieu ist bis heute : „Jesus liebt dich“. Die EKD gibt sich da etwas weniger aufdringlich. Sie hat ihren Reformprozess unter das Motto „Kirche der Freiheit“ gestellt. Das lässt Raum für unterschiedliche Zugänge – ist „Freiheit“ doch ein zentraler Begriff des neuzeitlichen Menschen- und Gesellschaftsverständnisses: ein selbstbestimmtes Leben, ein Leben ohne Bevormundung, ohne politische oder ideologische Einflussnahme, ohne Gewissenszwang ... Solche und ähnliche Assoziationen stellen sich ein. Doch von „wessen“ Freiheit ist hier die Rede? Wo hat sie ihren Ausgangspunkt? Wer garantiert sie? Geht es um „Autonomie“ oder ist diese „Freiheit“, von der die EKD spricht, nicht doch gebunden, zumindest eingebunden? Sollte man dann aber nicht schon im Slogan von dieser Bindung – nämlich in Gott reden?
Die Reduktion auf einen Satz, auf einen Merksatz, auf eine Maxime, mit der man durch’s Leben kommt – darum geht es scheinbar auch in dem Gespräch zwischen dem Schriftgelehrten und Jesus. „Welches ist das allerwichtigste Gebot“ lautet die Frage. Doch Jesus entzieht sich dem Ansinnen, das weit gefasste Regelwerk eines gottgefälligen Lebens auf „ein“ Gebot zu reduzieren. Er formuliert zwei Gebote, die aufeinander bezogen sind. Man hat deshalb das, was er vorträgt, auch das „Doppelgebot“ genannt – oder graphisch dargestellt: eine Ellipse mit zwei Brennpunkten.
Der Frager zeigt sich durchaus überzeugt. „Meister, du hast wahrhaftig recht...“, und in guter rabbinischer Art wiederholt er das von Jesus Gesagte. Denn: Was zwischen den beiden stattfindet, ist ein klassisches „Schulgespräch“, für das sich viele Parallelen aus dem zeitgenössischen Judentum beibringen ließen. Jesus formuliert, was zu seiner Zeit „common sense“ in weiten Teilen des pharisäischen Judentums ist. So wird von einem Gespräch berichtet, in das ein Nichtjude Rabbi Hillel verwickelt. „Bekehre mich zum Judentum unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuß stehe“. Wie lange kann ein Mensch auf einem Fuß stehen? Und wie umfangreich ist doch die Tora? Und wie lange braucht ein Mensch, diese zu studieren? Doch die Antwort, die Rabbi Hillel dem Frager gab, war frappierend kurz: „ Was dir verhasst ist, tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora, alles Weitere ist Kommentar dazu. Geh hin und lerne!“
Rabbi Hillel antwortete dem Frager mit dem Hinweis auf die „Goldene Regel“ – die wir auch bei Jesus finden. Den „heidnischen“ Frager wies er damit zunächst auf den Teil der Tora, der die zwischenmenschlichen Beziehungen regelt – qausi das, was Jesus mit dem zweiten des Doppelgebotes beschreibt. Und wahrscheinlich würden viele, wenn man sie danach fragte, was denn die Quintessenz des christlichen Glaubens sei, eben diesen Satz benennen: „Liebe deinen Nächsten ...“
Doch die Tora ist nicht menschliche Satzung. Sie ist Gottes Weisung. Sein Angebot, seine Einladung zum Leben. Das gilt es ebenso zu benennen. Deshalb gebot Rabbi Hillel dem heidnischen Frager: „Geh und lerne!“. Soll heißen: Lese die Schriften, höre, frage, und lese weiter und du wirst erkennen, dass Gott der Ursprung allen Lebens ist, der Geber, der Hüter, der Barmherzige, der Gütige, der Richter .... Lese die Schriften, höre, frage, und lese weiter und du wirst erkennen: Dein Nächster ist ebenso wie Du ein Geschöpf Gottes, sein Ebenbild. „Wer ein Menschenleben antastet, der tastet Gott an“, heißt darum ein alte rabbinische Weisheit. Wenn mir im Anderen aber Gottes Ebenbild begegnet, dann ist auch klar: Es kann kein Handeln geben, dass von diesem Bezug auf Gott absieht. Oder anders gesagt: Den Nächsten und Gott lieben – beide Gebote sind untrennbar miteinander verbunden.
„Ohne Gottesfurcht können die Menschen unter sich nicht Gerechtigkeit und Liebe bewahren“, scheibt Calvin in einer Asulegung des „Doppelgebotes“. „Wir nennen daher die Verehrung Gottes die Quelle und den Geist der Gerechtigkeit.“ Oder anders gesagt: Die erste Tefel der Gebote und die zweite Tafel der Gebote gehören untrennbar zusammen. In der jüdischen Zählung beginnt die 2.Tafel – also der Teil, der die „zwischenmenschlichen“ Beziehungen betrifft, mit dem Gebot „Lo tirzach“ – „Du sollst nicht töten“. Damit steht dieses Gebot auf derselben Höhe wie das 1.Gebot – eben im Sinne der schon zitierten Einsicht: „Wer ein Menschenleben antastet, der tastet Gott an."
Oder weiter mit den Worten Calvins: „Deshalb hat uns Gott in der ersten Tafel in der Frömmigkeit unterwiesen und in den eigentlichen Pflichten der Religion, mit denen seine göttliche Majestät verehrt werden soll. Die zweite Tafel schreibt uns dann vor, wie wir uns um der Furcht seines Namens willen in der Gemeinschaft der Menschen verhalten sollen.“ Um der Furcht seines Namens willen, sagt Calvin. Das mag uns merkwürdig klingen. Calvin erweist sich hier (wieder einmal) als eine Theologe, der das ganze Zeugnis der Heiligen Schrift im Blick hat. Denn es ist der Name, der unausprechliche, in dem und mit dem sich der HERR Israel offenbart und so die unendliche Differenz markert, die ihn von allen Götzen unterscheidet.
Und damit sind wir wieder bei den eingangs zitierten Slogans, mir der heute, ganz im Sinne der Reduktion, Menschen zum Glauben „eingeladen“, für den Glauben „interessiert“ werden sollen. Das Bemühen um einprägsame, wiedererkennbare Formeln birgt nämlich eine Gefahr in sich: Man blendet aus, was auch gesagt werden muss. Statt wie Jesus auf die beiden Dimensionen des Glaubens hinzuweisen, wird das Interesse nur auf eine Dimension gelenkt. Konkret gesagt: In vielen freikirchlich-evangelikalen Kampagnen wird – bereits im Titel – der Bezug auf Gott hergestellt. Das ist notwendig und richtig. Um nochmals Calvin zu zitieren: „Die Frömmigkeit ist nicht nur das vornehmste Stück der Gerechtigkeit, sondern geradezu ihre Seele, die selbst alles durchweht und belebt.“ Doch nach Aussagen zu den ethischen Fragen, dem 2.Teil des Doppelgebotes oder der „Zweiten Tafel“ muss man auf den Internetseiten erst suchen. Das mag vielleicht auch damit zusammenhängen, dass man in diesen Kreisen dem Image begegnen will, man „moralisiere“, schreibe den Menschen etwas vor ...
Die EKD Kampagne „Kirche der Freiheit“ erliegt dagegen der anderen Gefahr: Sie sucht den Zugang bei dem heute bestimmenden Selbstbild des Menschen und seiner gesellschaftlichen Widerspiegelung: beim Begriff der Freiheit. Sie suggeriert damit eine begriffliche Nähe oder gar eine begriffliche Übereinstimmung zwischen „Christentum“ und neuzeitlichem Denken und Handeln. Erst nach längerer Suche stößt man auf das, was aus biblischer Sicht zum Begriff der „Freiheit“ gesagt werden muss: dass die „Freiheit“, aus der der Christ lebt, keine erworbene, keine erarbeitete Freiheit, kein „Verdienst“ ist – sondern eine dem Menschen von Gott gegebene Freiheit. Gott ist der Grund unserer Freiheit, er ist ihr Maß, ihr Ausgangspunkt und ihr Ziel. Deshalb hat die „Freiheit“, zu der wir – wie Paulus sagt – durch Christus befreit sind, auch eine Begrenzung. Oder um noch einmal die rabbinische Weisheit zu zitieren: „Wer einen Menschen antastet, der tastet Gott an“. Das aber heißt: Alle Rede von der Freiheit macht keinen Sinn, wenn ich nicht zugleich den Namen des einen Gottes benenne. Gewiss gibt es eine Ethik ohne jeden Gottesbezug. Jedoch nicht für Christen.
Denn „die vornehmste Grundlage aller Gerechtigkeit ist die Verehrung Gottes“, sagt Calvin zurecht. Ist diese nicht mehr vorhanden, wird diese ausgeblendet, „so fallen alle anderen Stücke der Gerechtigkeit wie die auseinandergerissenen und zebrochenen Teile eines Gebäudes zusammen“. Diesen Eindruclk aber macht bisweilen das Reformpapier der EKD. Wo man auf freikrichlich-evangelikaler Seite allzu vollmundig von „Gott“ spricht, ergeht man sich in so manchem EKD-Papier in allgemein religiösen Floskeln, ohne klare Benennung des einen Namen , der über allen Namen steht. Doch „aus den Völkern ein Volk für seinen NAMEN zu gewinnen“ – dazu hat der HERR, wie es in der Apostelgeschichte heißt, die Apostel berufen und eingesetzt. Von dem einen zu reden, und über das andre zu schweigen – das wäre fatal.
Fazit: Wer heute ein programmatisches Anliegen in die Öffentlichkeit bringen will, der muss seine „Botschaft“ in wenigen Worten auf den Punkt bringen können, am besten in nur einem Satz – so sagte ich zu Beginn. Die Kirche sollte dieser Versuchung widerstehen. Denn sie würde Gefahr laufen, zu verkürzen und am Ende nur die eine Seite zu nennen, um die es im Glauben geht. Doch es geht eben um dieses beides:
Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften«. Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.