Über Lukas 2,1–20 – Dr. Bernd Krebs
Dr. Bernd Krebs
24. Dezember 2011
Liebe Gemeinde!
Eine Geschichte zu Beginn. Max hatte sich aus der Wohnung weggeschlichen, um einen Engel zu suchen. Doch wo sollte er in der großen Stadt einen Engel finden? Die Frau, die er auf der Straße ansprach, lächelte etwas verlegen. Sie beugte sich zu ihm hinunter und sagte: „Nee, Kleiner – da werde ich Dir nicht helfen können. Engel? In unserer Stadt? Mm. ... Solltest Du um diese Zeit nicht besser zu Hause sein. Es ist doch schon spät?“
Es war tatsächlich spät. Und normalerweise lag Max jetzt bereits im Bett. Doch es war ein besonderer Tag, der Tag vor dem Weihnachtsfest. Überall geschah Geheimnisvolles hinter den Türen. „Ich darf heute länger aufbleiben“, sagte Max und stemmte die Ellbogen in die Seite. „Na gut,“ antwortete die Frau, “aber Engel – die habe ich hier heute nicht gesehen“. „Also waren schon mal welche hier ...?!“ „Ich glaube, es war letzte Woche. Da zogen hier zwei Engel durch die Straße und haben Kekse verteilt“.
„Und wie sahen die aus?“ „Na, so wie Engel eben so aussehen.“, sagte die Frau und zwinkerte Max zu. Dann nahm sie die Tasche, die sie vor sich abgestellt hatte. „Viel Glück - ich muss jetzt weiter“. Max schaute sich um. Ob sich in der Straße noch Spuren der beiden Engel finden liessen? Es war ja noch nicht so lange her, dass sie hier vorbeigekommen waren.
Liebe Gemeinde. Weihnachtszeit ist Engelszeit. Mögen sie das ganze Jahr über nicht in Erscheinung treten - an Weihnachten haben sie ihren großen Auftritt. Sie schweben über dem Stall von Bethlehem. Sie stimmen ihre Instrumente an, gleich neben Maria und Joseph, den Hirten und dem Kind. Ihr Licht läßt die Gesichter der Menschen erstrahlen. Es verleiht der
Ärmlichkeit des Stalles zarte, liebliche Konturen.
Doch die weihnachtliche Bildersprache fügt in solchen Bildern zusammen, was im Bericht des Lukas so nicht zu finden ist. Da heißt es lapidar: „Und als die Engel von ihnen zum Himmel fuhren, sagten die Hirten zueinander: Laßt uns nach Bethlehem gehen und sehen, was geschehen ist, wie es uns der Herr verkündet hat“.
Die Engel sind längst fort, als sich die Hirten zum Stall aufmachen. Und so erfahren Maria und Joseph „nur“ aus dem Mund der Hirten, was die Engel über das Kind gesagt haben. Eine Engelserscheiungung wird ihnen nicht zuteil. Nun kann man einwenden: Maria hatte ja schon eine Engelserscheinung, ganz am Anfang der Geschichte. Das sollte wohl ausreichen. Doch warum weist Lukas in seinem Bericht dann nicht zurück auf diese Erscheinung? Und warum erfahren Joseph und Maria nur „aus zweiter Hand“, was es mit ihrem Kind auf sich hat?
Bis heute wird die Botschaft der Engel weiter gegeben. Von Generation zu Generation. Kein Engel leiht ihr seine Stimme. Und doch wissen sich Menschen von dieser Botschaft angesprochen – bis in die Tiefe des Herzens. Dabei sind es doch nur „Worte“? Mancher denkt dabei villeicht insgeheim, es fiele ihm leichter, den Worten zu vertrauen, gäbe sich hin und wieder ein Engel zu erkennen. Es muss ja nicht gleich die „Menge der himmlischen Heerscharen“ sein! Aber wer rechnet heute noch mit Engeln ...?
So müssen auch wir uns also – wie Maria und Joseph – allein auf das einlassen, was den Hirten „über dieses Kind gesagt“ worden war. Wird es auch uns berühren und uns – vielleicht ein bißchen, nur ein bißchen – zum Staunen bringen wie weiland die, die die Botschaft der Hirten hörten?
„Maria aber behielt alle diese Worte und bedachte sie in ihrem Herzen“, berichtet Lukas. Nun ja – sie war ja schließlich die Mutter. Mütter „bewegen im Herzen“, was man über ihre Kinder sagt – und Väter hoffentlich auch. Im „Herzen“ aber vollzieht sich – so kann man es immer wieder in der Bibel lesen – die entscheidende Verwandlung. Dort wird aus dem „Wort“, das einem Menschen zugesprochen wird, die Kraft, die wir „Glauben“ nennen. Es sind also nicht „nur“ Worte, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.
In, mit und hinter den „Worten“ stehen Erfahrungen. Sie künden davon, dass der Gott, der sich in einem Kind erkennbar und angreifbar gemacht hat, die Mühseligen und Beladenen aufrichet, die Kranken heilt und den Armen ihre Würde wiedergibt. In, mit und hinter den „Worten“ steht die Erfahrung, dass Gott immer Menschen zu einem neuen Leben erweckt, sie tröstet, stärkt und ermutigt - durch Worte, ja „nur“ durch Worte, und - durch entschiedene Taten, weil Gott seine Boten, seine Engel zu uns sendet, die mit all der ihnen gegebenen Kraft der Not, der Schuld, der Krankheit und der Gewalt entgegentreten. Denn – so spricht der HERR: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“.
Im Laufe unseres Lebens erkennen und begreifen wir, dass vieles, ja eigentlich alles, worauf sich unser Leben gründet, nicht von uns selbst stammt. Es ist nicht unser Verdienst, es ist nicht unsere Leistung, dass wir geliebt werden. Es ist nicht unser Verdienst, es ist nicht unsere Leistung, wenn wir Schuld hinter uns lassen können, weil uns die, die wir beschämt
oder verletzt haben, uns die Hand zum Neuanfang reichen. Es ist nicht unser Verdienst, es ist nicht unsere Leistung, wenn uns Gott aufhilft, tröstet und zu einem neuen Leben führt. Vom ersten Augenblick unseres Lebens an leben wir von dem, was Gott uns gibt und mit uns teilt – ER, der der Anfang, die Mitte und das Ziel unseres Lebens ist.
In der Sprache der Bibel heißt diese „Kraft“, die allem unseren Tun vorausgeht: „Liebe“ oder um es mit mit dem altertm,lichen Wort zu beschrfeiben: „Gnade“. In Gottes Liebe aber gründet das Ur-Vetrauen, ohne das kein Mensch leben und die schweren Stunden auf seinem Lebensweg durchstehen könnte. Die Liebe war vor uns da. Und sie wird auch noch da
sein, wenn wir nicht mehr sind. Das bezeugen die Engel – wenn sie Gott preisen als den, der bei den Menschen seines Wohlgefallens ist und immer sein wird – bis zum Ende unserer Tage, dann, wenn wir IHN endlich schauen werden.
Liebe Große und Kleine! Nun muss ich aber zum Schluss noch erzählen, ob Max „seinen“ Engel gefunden fand.
Als Max um die Straßenecke bog, dort, wo der Kinderladen war, in dem er viele Jahre mit seinen Freunden verbracht hatte, wunderte er sich. Aus dem Laden fiel helles Licht auf die Straße. Wer mochte um die Zeit dort noch sein? Max schaute durch die Scheibe. Doch er sah niemanden. Er drückte gegen die Tür. Sie sprang auf. Sollte er hineingehen? Er lauschte. Nichts. Kein Laut. Vorsichtig steckte er den Kopf durch den Türspalt und sah: mitten im Spielzimmer lag ein Paket, das genauso aussah, wie das, was er für seine Eltern unter dem bett versteckt hatte. Dasselbe Geschenkpapier. Dieselbe rote Schleife. Er griff das Paket und rannte hinaus. Zu Hause öffnete er das Band und schob das Papier vorsichtig zur Seite: Da lag der kleine Engel aus Ton, den er für seine Eltern gebastelt hatte und der ihm am Nachmittag zu Boden gefallen und zerbrochen war – und er war auf einmal vollkommen unversehrt. Max griff unter das Bett. Seine Hände tasteten nach „seinem“ Paket. Doch es war nicht mehr da.
Liebe Gemeinde. Engel haben viele Gestalten. Und Engel kennen viele Wege, das zu vollbringen, was wir uns von ihnen wünschen. Die Kinder wissen das. Und wir Erwachsenen sollten uns gelegentlich auch daran erinnern. Von Georg Christoph Lichtenberg, dem Mathematiker, dem aufgeklärten Spötter und Aphoristiker, wird der Ausspruch überliefert:
„Wer einen Engel sucht und nur auf die Flügel schaut, könnte ein Gans nach Hause bringen“.
Also: passen Sie heute (und nicht nur heute!) gut auf, dass Sie ihren Engel nicht übersehen und am Ende stattdessen eine Gans mit nach Hause bringen. In diesem Sinne „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden, unter den Menschen seines Wohlgefallens“.