Über I. Thessalonicher 2,13–20 – Matthias Reumann
Matthias Reumann
15. August 2010
Wir danken Gott unablässig dafür, dass ihr das von uns verkündigte und von euch empfangene Wort Gottes nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist: Gottes Wort, das in euch, den Glaubenden, wirksam ist. Denn ihr, liebe Brüder und Schwestern, seid dem Beispiel der Gemeinden Gottes gefolgt – der christlichen Gemeinden in Judäa –, da ihr von euren Mitbürgern dasselbe erlitten habt wie sie von den Juden.
Diese haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten, sie haben uns verfolgt, sie missfallen Gott und sind allen Menschen feind, weil sie uns daran hindern, den Völkern das Wort zu verkündigen, das ihnen Rettung brächte; so machen sie unentwegt das Maß ihrer Sünden voll. Aber schon ist der Zorn über sie gekommen in seinem vollen Ausmaß.
Wir aber, liebe Brüder und Schwestern, sind wie verwaist, da wir für eine kurze Zeit von euch getrennt sind – äußerlich nur, nicht aber im Herzen. Umso mehr haben wir uns voller Sehnsucht bemüht, euch von Angesicht zu sehen. Denn wir wollten zu euch kommen, ich, Paulus, mehr als einmal, doch der Satan hat es verhindert. Denn wer ist unsere Hoffnung, unsere Freude, unser Ruhmeskranz vor unserem Herrn Jesus, wenn er kommen wird? Nicht etwa auch ihr? Ja, ihr seid unser Glanz und unsere Freude.
Zwei Fragen werden uns heute besonders beschäftigen, sogar beschäftigen müssen. Die eine Frage ergibt sich aus der Geschichte, die Paulus und seine Mitarbeiter mit der jungen Gemeinde in Thessalonich erleben. Sie hat sehr schnell erlebt, dass ihre Hinwendung zu Gott, ihr Bekenntnis zu Jesus Christus nicht unbemerkt geblieben ist und auch nicht nur mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen wurde. Die Menschen, mit denen sie in ihrer Stadt zusammenlebten, dachten eben nicht: „Soll doch jeder nach seiner Façon selig werden!“. Ihr neuer Glaube wurde in Frage gestellt und sie wurden in Frage gestellt, ob sie mit diesem Glauben noch vollwertige Mitglieder der städtischen Bürgerschaft sein könnten. Was hat eigentlich den Widerstand ihrer Mitbürger hervorgerufen, was war das Ärgerliche, das sie nicht so einfach hinnehmen konnten? Wie versucht Paulus, die jungen Christen angesichts dieses Widerstandes ihres Glaubens zu versichern und ihre Widerstandskraft zu stärken?
Die zweite Frage betrifft die harten Worte, die Paulus über die Juden spricht. Wie sollen wir mit einem solchen Text heute umgehen? Enthält er doch die mit am stärksten antijüdischen Formulierungen im ganzen Neuen Testament. Wir müssen dabei sehr sorgfältig vorgehen, weil wir um die Geschichte wissen, die diese Worte später entfaltet haben. Es ist ja nicht bei Worten geblieben, man ist zur Tat geschritten gegen die Juden, „die den Herrn Jesus getötet haben“, manche haben sich selbst als die Vollstrecker des göttlichen Zorns betrachtet, den Paulus hier über den Juden walten sieht. Selbstverständlich distanzieren wir uns von einem solchen Verständnis dieser Worte, die sie als Vorwand für Verfolgung, Mord und Totschlag nehmen. Aber wir sind gefragt, wie wir sie denn verstehen, sind es doch Worte, die in unserer Heiligen Schrift stehen und also mit einer gewissen Verbindlichkeit daherkommen – ich formuliere bewusst vorsichtig.
Was waren die Gründe dafür, dass den Christen in Thessalonich ein scharfer Wind ins Gesicht wehte? Woher wehte dieser Wind, wer waren diejenigen, die die Gemeinde bedrängten? Paulus spricht vom „Leiden“ der Thessalonicher. Es wird sich also nicht nur um Unverständnis, Spott oder leichtere Beleidigungen gehandelt haben. Es war wohl eine deutliche gesellschaftliche Ausgrenzung der Christen, vielleicht verbunden mit Anklagen vor Gericht oder auch tätlichen Übergriffen. Aber was konnte man denn diesen jungen Christen vorwerfen? Nicht, Christen sind doch eher harmlose Leute, oder? Wer stand hinter der Opposition gegen die christliche Gemeinde? Waren es Heiden, also Menschen, die mit dem Pantheon der griechischen oder römischen Götter vertraut waren oder einem der vielen lokalen Kulte anhingen? Oder waren sie unter den Juden der Stadt zu finden, die in Thessalonich sicherlich eine Minderheit waren, aber auch nicht ohne jeden Einfluss?
Die Antwort müssen wir suchen, einerseits in diesem Brief – mehr zwischen den Zeilen, andererseits in der Apostelgeschichte, die uns einiges zumindest über den Aufenthalt des Paulus in Thessalonich berichtet. Paulus spricht davon, dass den Thessalonichern von ihren „Mitbürgern“ Leid zugefügt wurde. Die Christen in Thessalonich waren ganz überwiegend Heiden, die – wie Paulus sagt – „sich von den nichtigen Göttern dem lebendigen Gott zugewandt haben“. Das spricht dafür, dass es sich bei den „Mitbürgern“ ebenfalls um die heidnische Bevölkerung der Stadt gehandelt hat. Dafür spricht auch die Anklage, der sich die Christen in Thessalonich bereits beim Aufenthalt des Paulus gegenüber sahen. Die Christen werden als diejenigen bezeichnet, „die den ganzen Erdkreis in Aufruhr gebracht haben“, es gibt also bereits einschlägige Erfahrungen mit diesen Leuten. Konkret heißt es dort: „Sie alle handeln den Anordnungen des Kaisers zuwider, denn sie behaupten, ein anderer sei König, nämlich Jesus“. Keine harmlosen Anschuldigungen! Aufruhr – das war eine Sache, bei der römische Beamte und Soldaten keinen Spaß verstanden. Und auch die Politarchen, also die „Bürgermeister“ der Stadt Thessalonich, würden es nicht zulassen, dass auch nur der Verdacht einer solchen Sache auf die Stadt fällt.
Ein völlig unbegründeter Verdacht? Christen tun so etwas doch nicht!? Nun, der aktive Widerstand gegen die römische Herrschaft war sicherlich nicht auf der Tagesordnung der christlichen Gemeinde. Aber der Satz „Jesus ist Herr!“ war alles andere als ein harmloser Satz in einer Welt, in der ganz klar war, dass „Herr“ nur der Kaiser von Rom sein konnte. Im Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn lag in der Tat auch die Infragestellung des römischen Kaisers, nicht seiner politischen Herrschaft, wohl aber der religiösen Würde, mit der er sich gerne umgab, und die auch von den Bürgern des Römischen Reiches nicht bestritten wurde. Vielleicht hatten einige Christen sich bereits von solchen öffentlichen Huldigungen des Kaisers distanziert. Der Vorwurf der politischen Subversion war also nicht völlig aus der Luft gegriffen. Politik und Religion waren keine voneinander getrennten Bereiche, es gab eine „politische Theologie“, die mit dem christlichen Bekenntnis unvereinbar war, und die die Christen vor die Frage stellte, was können wir noch mitmachen, ohne Christus zu verleugnen? Die Einsicht, dass der Staat von Werten lebt, die er selbst nicht garantieren kann, war noch sehr weit entfernt. Christen in totalitären Staaten heute stehen vor der Frage: Sollen wir in einer grundsätzlichen Opposition zum Staat stehen oder müssen wir je nach der Situation einmal Ja und ein anderes Mal Nein zu ihm sagen? In der DDR fragten sich die Christen: Sollen unsere Kinder an der Jugendweihe teilnehmen oder nimmt der Staat sich damit ein Recht heraus, das wir ihm um Christi willen nicht zugestehen dürfen?
Die Konflikte der Christen mit der heidnischen Bevölkerung von Thessalonich könnten mit solchen Fragen zu tun gehabt haben. Die Apostelgeschichte berichtet aber auch von starker jüdischer Opposition gegen die Apostel und die junge Gemeinde. Sogar davon, dass die Juden der Stadt diese Vorwürfe lanciert hätten. Das ist gut vorstellbar; es hat in der Zeit der frühen Christenheit solche Denunzierungen von Christen durch die jüdische Gemeinde immer wieder gegeben. Die Rechtsstellung der Juden im Römischen Reich war erheblich besser als die der christlichen Gemeinden. Das hat sich später ja gründlich geändert. Jedenfalls hat diese jüdische Opposition dazu geführt, dass Paulus und Silas als vermeintliche Unruhestifter die Stadt verlassen mussten. Auch in der nächsten Stadt Beröa, wo sie eine Gemeinde gründeten, mussten sie aufgrund ihrer Nachstellungen schnell weiterreisen. Die Sorge des Paulus um die Gemeinde in Thessalonich und damit auch dieser Brief haben natürlich damit zu tun, dass er die Stadt viel früher verlassen musste, als er geplant hatte. Vielleicht hat die Vehemenz seiner Worte gegen die Juden ja auch mit diesen Erfahrungen zu tun, die noch ziemlich frisch waren.
Paulus holt aber noch wesentlich weiter aus und zeichnet ein Bild von den Juden, das nicht nur einen Einzelfall beschreibt, sondern eine sehr grundsätzliche – man muss beinahe sagen: Abrechnung darstellt. Zunächst stellt Paulus die Thessalonicher in eine Reihe mit den christlichen Gemeinden in Judäa, also der Gemeinden, die in dem ersten Kreis um Jerusalem gelebt haben, von wo die christliche Botschaft ihren Ausgang genommen hatte. Sie sind in ihrer Leidenserfahrung also in guter Gesellschaft. Christen haben es von Anfang an erfahren, dass sie auf den Widerstand ihrer Umgebung gestoßen sind. Paulus spricht aus eigener Erfahrung, er selbst hat ja schon bei seinen ersten Schritten als Christ gemerkt, dass er sich auf einen gefährlichen Weg begeben hatte. Die Thessalonicher erleben jetzt das, was schon Paulus und was auch andere Gemeinden erlebt haben. Sie sind dem Beispiel der Gemeinden in Judäa gefolgt, natürlich nicht dadurch, dass sie diese Leiden gesucht hätten – kein geistig gesunder Mensch sucht das Leiden –, sondern dadurch, dass ihr Bekenntnis zu Christus diesen Widerstand provoziert hat. Sie sollen es als ein Zeichen verstehen, dass sie auf dem richtigen Weg sind.
Aber warum diese harten Worte des Paulus gegen die Juden, die eine so unselige Wirkungsgeschichte gehabt haben? Manche seiner Worte beziehen sich ja auf unbestreitbare Ereignisse: Die jüdischen Priester und Theologen hatten ja eine entscheidende Verantwortung für das Urteil Jesu, das die Römer dann ausgesprochen und vollstreckt haben; die christlichen Gemeinden sahen sich immer wieder der Feindschaft der jüdischen Synagoge gegenüber und Paulus hatte selbst reichlich Erfahrung mit dieser Feindschaft gemacht. Seine Worte bedienen sich aber auch aus dem Arsenal der antiken Judenfeindschaft: Dass „die Juden allen Menschen feind sind“, konnte man auch bei manchem griechischen und römischen Autoren lesen. Antijüdische Ressentiments waren verbreitet, bei Ungebildeten und bei Gebildeten, etwa bei dem zeitgenössischen Philosophen Seneca.
Die jüdischen Gemeinden bildeten in den Städten Gemeinschaften, die einen exklusiven Eindruck machten, was sie für viele schon verdächtig machten: Die sondern sich ab, die haben ihre eigenen Gesetze, sind ein Volk für sich. Ihre vergleichsweise hohen ethischen Ansprüche machten sie für manche attraktiv, andere lehnten sie gerade deswegen ab. Eigentlich sind das alles Eigenschaften, die auch für die christlichen Gemeinden kennzeichnend waren: Das Bewusstsein, in einem besonderen Sinne „Gottes Volk“ zu sein, einladend, aber doch mit einer deutlichen Abgrenzung gegenüber der Umwelt und mit einer verbindlichen Lebensführung. Die Verdächtigungen und Vorbehalte, die die jüdische Synagoge getroffen haben, konnten genauso gut die christliche Gemeinde treffen.
Das ist wohl ein Aspekt der Antwort auf die Frage, warum Paulus so scharfe Worte über die Juden ausspricht. Christliche und jüdische Gemeinden waren einander sehr ähnlich, und das ist eine Beobachtung, die man ja oft machen kann – in der Religion, aber auch in der Politik: Gerade die Gemeinden, Gruppierungen und Parteien, die einander am nächsten stehen, bekämpfen sich am heftigsten. Juden und Christen als feindliche Brüder, die, weil sie sich so nahe stehen, besonders deutlich die Grenzen markieren, die Unterschiede betonen. Paulus ist ja im Neuen Testament auch nicht der einzige, der eine solche Rhetorik gebraucht; ähnliche Töne können wir auch an anderen Stellen hören, etwa im Matthäus- und im Johannesevangelium oder in der Johannesoffenbarung. Diese Auseinandersetzungen hatten durchaus ganz konkrete Hintergründe: Die christliche Botschaft ist auf offene Ohren vor allem bei Menschen gestoßen, die schon vorher ein positives Verhältnis zum Judentum hatten; es handelte sich also um eine missionarische Konkurrenz zwischen Kirche und Synagoge.
Vielleicht können wir uns das an einer entsprechenden Streitfrage unserer Zeit deutlich machen: Die Jüdische Gemeinde in Deutschland reagiert sehr scharf auf Versuche von Christen, Juden das Evangelium zu sagen. Es geht bei diesen evangelistischen Bemühungen vor allem um Juden, die aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kommen. Diese versuchen auch die jüdischen Gemeinden in ihr Gemeindeleben zu integrieren und wieder mit den jüdischen Traditionen vertraut zu machen. Auch hier gibt es eine missionarische Konkurrenz, die heftig umstritten ist – auch innerhalb der Kirche. Vor allem aber treten Juden selbst christlichen Evangelisationsversuchen mit schärfsten Worten entgegen. So bezeichnete der Baden-Württembergische Landesrabbiner Joel Berger solche Aktivitäten als einen „Holocaust mit anderen Mitteln“. Diese Formulierung lässt sich nach meiner Überzeugung nicht rechtfertigen und es wäre gut gewesen, wenn sich die Kirchenvertreter, die Zeugen dieser Worte gewesen sind, gegen diese Formulierung verwahrt hätten. Aber es macht deutlich, wie sensibel solche Fragen sind, natürlich vor allem auf dem Hintergrund der Leidensgeschichte des Judentums und der Schuldgeschichte der Kirche.
Wie können wir nun mit den harten Worten des Paulus umgehen, die er über die Juden seiner Zeit ausspricht? Erst einmal ist es ganz wichtig, festzuhalten, dass hier ein Jude über Juden redet. Sicher, er redet hier so, als würde er nicht dazugehören, aber es bleibt ja dabei, es handelt sich um eine innerjüdische Kritik. Wenn wir uns heute diese Worte zu eigen machen würden, dann wären es nicht mehr dieselben Worte. Wenn zwei dasselbe sagen, dann ist es noch lange nicht dasselbe. Wir können und sollen versuchen zu verstehen, warum Paulus diese Worte gewählt hat, wir sollten sie aber nicht – gewissermaßen als zeitlose Wahrheit über das Judentum – wiederholen. Ich denke, dafür spricht auch, dass Paulus selbst, soweit wir wissen, solche Worte nicht wiederholt hat. Am letzten Sonntag [dem Israel-Sonntag] ist über einen Abschnitt aus dem Römerbrief gepredigt worden, in dem Paulus über Israel nachdenkt. Da herrscht nun wirklich ein anderer Ton, aber auch eine Hoffnung für die Juden, die Christus bisher ablehnen, die wir im 1. Thessalonicherbrief nicht finden. Vielleicht ist Paulus in den Jahren, die zwischen dem 1. Thessalonicherbrief und dem Römerbrief liegen, wirklich zu einer besseren Erkenntnis in dieser Frage geführt worden.
Heute begegnet man der Kirche in Deutschland selten mit offener Feindschaft. Wirklich feindlich steht der Kirche nur eine kleine, aber lautstarke Minderheit gegenüber, die Glauben und Religion überhaupt für rückständig oder sogar gefährlich hält. Freundliche, manchmal auch unfreundliche Gleichgültigkeit würde besser beschreiben, was wir von vielen Menschen erfahren. Die Thessalonicher haben wirklich offene Feindschaft erfahren, und für Christen in vielen Gegenden der Welt ist das die tägliche Realität. Paulus hat sich hier wirklich im Ton vergriffen; er will die Thessalonicher in ihrer Erfahrung von Widerstand und Anfeindung stärken. Ihre Identität als christliche Gemeinde, als dem Volk Gottes, dem seine besondere Aufmerksamkeit gilt. Die aber der Feindschaft, die sie erfährt, nicht wiederum mit Feindschaft begegnet. Deshalb soll ein Wort des Paulus, das er den Thessalonichern am Ende des Briefes mit anderen Worten sagen wird, am Ende der Predigt stehen: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse