Über I. Könige 8,22–28 – Petra Schmidtkunz
Petra Schmidtkunz
12. September 2010
Hier in Neukölln kommen wir gar nicht erst in die Versuchung, Gott auf der Spitze eines hohen Berges zu suchen, wie dies der Beter von Psalm 121 eingangs vorschlägt. Heben wir den Blick, können wir feststellen, ob der Himmel über Berlin gerade blau oder grau ist, doch wir sehen keine Berge, auf denen jemand thronen könnte. Wenn Wolken über uns ziehen, sitzt meistens niemand darauf. Und echte Engel flattern auch eher selten vorbei, um uns den Weg zur Himmelspforte zu weisen.
Wohin aber können wir uns wenden, wenn wir Gott suchen, ihn um Rat oder Beistand bitten wollen? Und können wir selbst die Erfahrung machen, von der der Psalmdichter spricht: dass Gott, der Himmel und Erde, Berge und auch unser Flachland gemacht hat, unsere Hilfe ist und uns behütet?
Im 1.Buch der Könige wird erzählt, wie ein Mensch sich im Gebet Gott nähert, und ich möchte Sie einladen, im Anschluss an diese Geschichte einmal zu überlegen, ob wir heute diesem Menschen nicht auf unsere Weise folgen können.
Die Geschichte spielt im 10.Jahrhundert vor Christus, zur Zeit des sagenhaft weisen Königs Salomo. Unter seine Ägide ist dem Gott Israels in Jerusalem ein Tempel, der Tempel gebaut worden und wird nun eingeweiht:
8,22 Salomo [trat] in Gegenwart der ganzen Versammlung Israels vor den Altar des Herrn, breitete seine Hände zum Himmel aus 23 und betete: Herr, Gott Israels, im Himmel oben und auf der Erde unten gibt es keinen Gott, der so wie du Bund und Huld seinen Knechten bewahrt, die mit ungeteiltem Herzen vor ihm leben. 24 Du hast das Versprechen gehalten, das du deinem Knecht, meinem Vater David, gegeben hast. Deine Hand hat heute erfüllt, was dein Mund versprochen hat. 25 Und nun, Herr, Gott Israels, halte auch das andere Versprechen, das du deinem Knecht David, meinem Vater, gegeben hast, als du sagtest: Es soll dir nie an einem Nachkommen fehlen, der vor mir auf dem Thron Israels sitzt, wenn nur deine Söhne darauf achten, ihren Weg so vor mir zu gehen, wie du es getan hast. 26 Gott Israels, möge sich jetzt dein Wort, das du deinem Knecht David, meinem Vater, gegeben hast, als wahr erweisen. 27 [Aber] wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wieviel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe. 28 Wende dich, Herr, mein Gott, dem Beten und Flehen deines Knechtes zu! Höre auf das Rufen und auf das Gebet, das dein Knecht heute vor dir verrichtet.
Reihen wir uns ein in die Versammlung der Menschen, die zum Tempel gekommen sind und auf das Gebet ihres Königs lauschen.
Was hören und sehen wir?
Salomo redet zu Gott. Beinahe wie ein Priester steht er da, zwischen uns und dem Tempel, reckt seine Arme zum Himmel und beginnt zu sprechen. Laut und deutlich bekennt er sich zu Gott als dem allmächtigen und treuen Beschützer. Schön theologisch klingt das und beim ersten Hören genauso naiv wie unser Psalm. Wie kommt er eigentlich dazu, Gott für einzigartig und verlässlich zu halten? Mit dieser Aussage an sich hat er mich noch nicht überzeugt.
Dann aber wird Salomo konkret und breitet seine gar nicht mehr so recht typisch priesterlichen Gedanken aus. An seinen Sorgen merkt man, dass der König spricht: er fürchtet um den Fortbestand seiner Dynastie. Zwar hat Gott ihm den Auftrag erteilt, den Tempel zu bauen. Wir können es am Anfang des Königebuches nachlesen und staunen. Was die königlichen Baumeister und Handwerker geschaffen haben, muss gewaltig gewesen sein. Ein Tempel so prächtig, dass man noch 3000 Jahre später davon erzählen wird. Aber dadurch hat Salomo noch nicht ausgesorgt. Ihm schwant, dass es mehr braucht als ein schönes Haus, um Gott zu imponieren. Außerdem weiß er, dass sein Vater David längst mit Gott im Kontakt war, bevor überhaupt der Grundstein des Tempels gelegt worden war. Ganz allein auf die Worte Davids mag er sich indessen wohl nicht verlassen. Er kann sich als Erbauer des neuen Tempels rühmen. Er kann sich als Priester fühlen, der den Tempel einweihen darf. Aber vor allem tritt er hier als Sohn und als Zweifler auf, man könnte sagen, als ein ganz normaler Mensch.
Obwohl er über seinen Vater David von Gott die Anweisung bekommen hatte, den Tempel zu bauen, ist Salomo doch unsicher, was er nun von diesem monströsen Bauwerk halten soll. Was wäre das denn für ein Gott, der sich zwischen diesen Mauern einsperren ließe? Wohnte Gott nicht eher im Himmel, wie es sich ja auch die meisten Völker in der Umgebung vorstellten? Bewohnte er, den niemand je gesehen hatte, überhaupt irgendeinen Ort? Sicher ist Salomo nur, dass dieser Gott, auf den schon sein Vater sein Vertrauen gesetzt hatte, sich als wohltätig erwiesen hat. An seiner eigenen Person kann er es ablesen. Er, Salomo, ist König geworden und hat den Tempel errichten lassen, von dem sein Vater nur träumen durfte – ganz so wie Gott es verheißen hatte. Die Geschichte Davids ist nicht vergessen und verloren, sondern geht weiter. Salomo steht auf dem Berg Zion vor dem eindrucksvollen Beweis. Und ihm wird bewusst, dass er damit zugleich auch vor Gott steht. Schon vor seiner Geburt hatte diese Geschichte begonnen, in der er sich jetzt wieder findet. Weder er noch sein Vater haben Gott gesehen. Aber was sie sich von ihm erhofft haben, ist Wirklichkeit geworden. Und Salomo hofft weiter, dass auch seine nächsten Zukunftspläne auf diese Weise in Erfüllung gehen. Ganz ohne Scheu, so hat es den Anschein, bringt Salomo zur Sprache, was ihn bewegt. Er ruft und er fleht. Er zieht sich nicht ins Allerheiligste des Tempels oder seine königliche Kammer zurück. Im Gegenteil: Er steht vor dem Tempel, an dem Ort, den Gott selbst sich erwählt hat, damit die Menschen eine Anlaufstelle hätten. Hierher sind sie gekommen, weil sie auch auf der Suche sind nach sichtbaren Zeichen dafür, dass es Gott gibt.
Seit alter Zeit glauben Juden und seit 2000 Jahren auch Christen, dass Gott allmächtig, unsichtbar und unverfügbar ist, ja, dass es nicht der wahre Gott wäre, wäre es anders. Und sicherlich genauso lange suchen sie nach Beweisen, dass dieser unfassbare Gott wirklich handelt und Einfluss nimmt. Die Bibel erzählt uns immer wieder von Menschen, die Gott um Zeichen gebeten haben, weil sie nicht so einfach glauben konnten, und von anderen, die ein persönliches Ereignis als Gottesbeweise erlebt haben. Gemeinsam ist ihnen, dass sie, was sie von Gott gehört hatten, plötzlich mit ihrem eigenen Leben in Verbindung bringen konnten. Bevor David Besuch vom Propheten Nathan bekam, der ihm dann versprach, Gott werde seinen Namen berühmt machen, oder bevor Salomo Gott im Traum sah und ihn bei der Gelegenheit um seine legendäre Weisheit bitten durfte, hatten ihre Väter ihnen bereits von Gott erzählt. Sie hatten eine Vorstellung davon, dass ihr Leben Teil eines größeren Ganzen wäre. Zugleich aber haben diese jüdischen Monarchenväter ihre Kinder gelehrt, dass zu einer gelingenden Beziehung ein Bemühen auf beiden Seiten notwendig ist und dass es auch im Umgang mit Gott Regeln gibt. Selbst für den König. Gottes Ansprüche stehen ja fest. Er hat seine Gebote kund getan, gerade damit jeder, der es mit der Gottesbeziehung ernst meint, weiß, was zu tun ist. Und das hat Salomo wohl verinnerlicht. Nur weil Gott seinem Vater wohlgesonnen war, kann er sich noch lange nicht zurück lehnen. Eine Beziehung – eben auch eine Beziehung zu Gott – ist etwas Individuelles. Sie will gestaltet werden und kann nicht ein für alle Mal beschlossen und dann ihrem Lauf überlassen werden.
Aber warum soll man sich nicht bei anderen etwas abgucken? Es muss ja nicht jeder Glaube, Liebe, Hoffnung, Treue und Respekt neu erfinden! Dem Königssohn Salomo wurden Vaterliebe und Gottesliebe in die Wiege gelegt, mit allen Vorbehalten, nicht davor gefeit, manchmal an beidem zu zweifeln, aber er hat sie erfahren. Wir wissen nicht, wie es um sein Volk steht. Davids Volkszählung hat nicht erhoben, wieviel Prozent der israelitischen Bevölkerung sich damals für gläubig hielten. Und es ging ja auch nicht darum, festzustellen, wie es in den Köpfen der Menschen aussah. Schon eher darum, ob sie sich so verhielten, dass das Wohlergehen der Gemeinschaft nicht behindert würde. Das war wichtig für den König damals und es gilt im Übrigen ebenso für uns und bei uns heute. Kein Volk der Welt kann durch dogmatische Lehrreden gewonnen werden. Von Mensch zu Mensch dagegen lassen sich Überzeugungen vermitteln. Und kluger Herrscher, der er war, lässt Salomo sein Volk daran teilhaben, was ihm heilig ist: Die Menschen, die zum Tempel gepilgert sind, dürfen zuhören, als er sein Gebet spricht.
Wir haben uns ja hier nur eingeschlichen und uns in unserer Phantasie dazugestellt. Glücklicherweise hat für uns jemand aufgeschrieben, was es zu hören gab. Denn schon Salomo selbst gelangt ja zu der Ansicht, dass es nicht der Tempel ist, an dem letztlich alles hängt. Entscheidend ist vielmehr, was an diesem Ort geschieht. Salomos Tempel wird zu dem Ort, an dem sich Glaube verankert. Er steht dafür, dass Gott wirklich gehandelt hat und erfahrbar geworden ist. Von diesem Ort aus blickt Salomo zurück auf die ergangene Verheißung, die Versprechen, die Gott seinem Vater gegeben und erfüllt hat, und er blickt nach vorne, in die Zukunft, die er sich wünscht. So verbindet sich seine Hoffnung mit dem Tempel und weist gleichzeitig darüber hinaus. Für die, die die Szene betrachten – und auch wir werden ja noch indirekt Zeugen des Geschehens – wird klar, dass der Glaube einen Ort braucht, einen festen Ort, der Orientierung bietet. Aber wir ahnen auch, dass es nicht unbedingt dieser eine Ort sein muss. Wir können uns auch anders orientieren und verorten. Überall dort, wo ein Mensch Gottes Zuspruch erlebt hat und das dann nicht nur für sich behält, sondern davon erzählt, öffnet sich ein neuer Raum. Und Gotteserfahrungen können ja ganz unterschiedlich sein. Manche lassen sich vielleicht auch gar nicht mitteilen. Dann nehmen wir nur wahr, dass sich jemand getröstet oder getragen gefühlt hat. Eine Gemeinde ist sicherlich ein richtiger Sammelplatz für solche Beispiele. Und deswegen ist unser Glaube, zusammen mit dem Zweifel, der immer dazugehören darf, in der Gemeinde gut aufgehoben. Mag der Zweifel auch von Zeit zu Zeit überwiegen, findet sich hier bestimmt jemand, der uns mit seiner Gewissheit daran erinnern kann, wo wir mit unseren eigenen Augen nach Gottes Spuren suchen können. Denn natürlich kann jede Erfahrung, die man nicht selbst gemacht hat, nur eine Ermutigung sein, selbst Ausschau zu halten und aktiv zu werden. Immer wieder wird es Menschen wie Salomo geben, die nicht nur tolle Häuser bauen, sondern auch gut reden können. Die Worte finden für Gedanken, die wir selbst vielleicht nicht so schön formulieren könnten. Für viele Menschen sind die Psalmen solche Worte. Sie zeugen davon, dass auch andere vor uns in ihrer Not Hilfe bei Gott gesucht haben und getröstet worden sind. Und dafür hat man sie gesammelt, dass wir ganz normalen Menschen (und auch alle Priester und Poeten, wenn sie gerade nicht kreativ sind), aus diesen früheren Taten Gottes Mut und Hoffnung schöpfen. Wir können die Worte aufnehmen und dort, wo uns etwas fehlt, unsere eigenen Gedanken mit hinein legen. Wer aber die Ohren spitzt, die Augen und das Herz öffnet, um wahrzunehmen, was mit ihm geschieht, vor allem aber auch den Mund öffnet, um zu formulieren, was ihn oder sie bedrückt, wird merken, dass selbst zu beten gar nicht so schwer ist. Warum nicht klein anfangen? Einmal nachspüren, was mich bisher getragen hat, und einen Moment einfach nur dafür dankbar sein. Mir klar machen, ob in meinem Inneren ein neues Ziel schlummert. Auch die Ängste und Befürchtungen wahrnehmen, die damit verbunden sind. Und dann den Blick heben, nicht um nach den Sternen zu greifen, sondern um zu sehen, ob nicht hier auf der Erde, in unserer Nähe jemand uns ein Beispiel sein könnte. Wenn sogar der große und von Gott selbst ausersehene König Salomo sich noch um seine Zukunft sorgt und das auch ausspricht, ja gerade das ausführlich beschrieben wird, können wir uns an ihm sicher ein Beispiel nehmen. Aber es muss ja nicht Salomo sein. Gott hat uns mit vielen Menschen umgeben und vielleicht können wir dem einen oder anderen etwas ablauschen.
Wir beten hierzulande ja nicht oft aus dem Stegreif, und wenn es irgendwo Gebete zu hören gibt, dann sind es häufig steile Bekenntnisse, filmreif und vertrauensselig, die sicher einem frommen Herzen entspringen, aber meiner Erfahrung oft widersprechen. Hier findet mein Glaube keinen Anknüpfungspunkt. Ich bin allerdings auch Menschen begegnet, deren Weltbild ganz gut mit dem meinigen übereinstimmte, und die mich damit überraschten, dass sie regelmäßig beteten. Ich wollte es ja selbst gern lernen und erwartete eine spezielle Technik, die ich mir aneignen könnte. Und dann hörte ich ganz normale Worte, manchmal Pausen und nur halb beendete Sätze und war noch erstaunter. Keine Trance, keine wundersamen Formeln. Einfach sehr menschliche Gedanken, in ebenso menschliche Worte gefasst. Und das auch noch am hellichten Tag, in meinem Wohnheimzimmer. Mitten drin in meinem ganz normalen Alltag, aber doch besonders. Denn es entsteht ein eigener Raum, wenn wir so beten, ganz egal an welchem Ort wir uns befinden. Und vielleicht sollte ich lieber sagen, es entsteht eine Perspektive. Wir dürfen genau dort stehen, wo wir nun mal sind. Von diesem unserem Standpunkt aus können wir ja zurück blicken und auch nach vorne, in die Weite. Wir sollen es aber auch tun und danach suchen, was uns helfen kann.
So dürfen wir Jesus verstehen, der zum Bedauern seiner Jünger, diese ebenfalls keine geheimnisvollen Formeln lehrte, sondern ihnen das Unser-Vater-Gebet schenkte und sie ansonsten mehrmals daran erinnerte, dass dem, der bittet, gegeben wird. Die Worte an sich sind nicht ausschlaggebend. Sie wirken nicht automatisch. Der Wunsch mit Gott in Kontakt zu treten, kann sich auf ganz verschiedene Weise und in unterschiedlichen Worten ausdrücken. Deshalb kommt es auch nicht darauf an, ob wir unser Gebet selbst formulieren oder auf Worte zurück greifen, die andere vor uns gefunden haben. Und auch die Umstände sind nicht wichtig. Kerzen, Musik oder Stille, ein Bild oder tatsächlich ein besonderer Ort können aber dafür sorgen, dass wir uns auf das Wesentliche konzentrieren: eine Haltung einzunehmen, bei der wir Gott zugestehen, dass er größer ist als unsere Pläne. Größer aber auch als unsere Ängste.
Von Salomo können wir lernen, die Unverfügbarkeit Gottes neu zu überdenken und daraus eine Zuversicht zu gewinnen. Wenn wir nur nicht darauf bestehen, alles selbst zu können, bleiben wir offen, für das, was uns geschenkt wird. Erzwingen können wir ohnehin so Vieles nicht. Wir können aber auch längst nicht so viel falsch machen wie wir oft befürchten.
Mit dem Bild des berühmten Königs Salomo vor Augen, der Gott keineswegs schon in der Tasche, wohl aber im Herzen hat, verstehen wir nun vielleicht besser, warum es sich lohnt, beten zu lernen. Auch nach der Zerstörung des Tempels setzt sich ja die Geschichte des Judentums bis heute fort. Ausgerechnet der Tempel wurde schließlich zum Anlass, den Kult kritisch zu betrachten. Wenn Gott die Menschen überall hin begleitet, kann er nicht im Tempel wohnen. Der Kult hat sich verändert; das worauf er zielte, ein besonderes Verhältnis zu Gott, diese Sehnsucht hat die Zeiten überdauert.
Selig sind, das Wort Gottes hören und bewahren! Amen.